Unser Gehirn beginnt bereits ab dem 22. Lebensjahr abzubauen- und zwar jährlich zwischen einem und eineinhalb Prozent. Rein rechnerisch hat man so mit fünfzig Jahren 28 bis 42 Prozent seiner ursprünglichen Gehirnleistung eingebüßt- also ein gutes Drittel! Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: jeder kann in jedem Alter diesem Prozess gegensteuern, wenn er täglich trainiert. Das Gehirn reagiert ähnlich wie ein Muskel: je mehr und vielfältiger es beansprucht wird, desto flexibler und stärker wird es. Es ist erwiesen, dass selbst im hohen Alter noch neue Gehirnzellen nachwachsen.
Wer sein Gehirn vielfältig und mit Spaß und Fantasie beansprucht und herausfordert, dessen Lebensqualität steigt erheblich. Man kommt im Alltag und im Berufsleben besser zurecht, wenn die grauen Zellen nicht mehr nur grau, sondern bunt sind- bildlich gesprochen. Denn die Verknüpfung einer faktischen Information mit einem Bild, einer Emotion, einfach etwas Sinnlichem, wird vom Hirn besonders gern angenommen. Das liegt daran, dass in dem Moment, in dem diese beiden Komponenten- Information und sinnliches Erleben- zusammen treffen, beide Gehirnhälften angesprochen werden und sich vernetzen.
Die linke Gehirnhälfte ist weitgehend für Faktisches wie Zahlen und Daten zuständig, die rechte hauptsächlich für das emotionale Erleben und für Kreativität (dies ist sehr vereinfacht ausgedrückt und wird derzeit noch intensiv erforscht). Je besser eine Angelegenheit mit beiden Gehirnhälften verknüpft ist, desto höher wird der Stellenwert, den das Gehirn ihr gibt.
Eine schlichte Ziffernfolge ist zum Beispiel sehr viel schwieriger zu merken, wenn man sich allein auf die Ziffern konzentriert. Gibt man aber jeder Ziffer eine Bedeutung, ein Bild oder ersetzt sie durch einen Buchstaben, so kommt die kreative Seite ins Spiel. Die 808 wird so zum Beispiel zum SOS, natürlich in Rot vorgestellt. Die vergisst man so garantiert nicht mehr. Geht die Ziffernfolge weiter- zum Beispiel, weil es sich um eine Telefonnummer handelt, gibt man auch dem nächsten Block eine Bedeutung: 166, als Buchstaben umgewandelt, könnte man als ABB lesen und daraus ‚Anton braucht Brille’ machen- also SOS Anton braucht Brille.
Ich kann noch heute die biologische Klassifizierung von Lebewesen aus Schulzeiten abrufen, weil ich sie mir anhand der Anfangsbuchstaben merkte, aus denen ich ein Wort bildete: sukofgari. Klingt wie ein bulgarisches Nationalgericht, steht aber für „Stamm, Unterstamm, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art, Rasse, Individuum“. Ist noch immer die korrekte Reihenfolge, mühelos abrufbar.
Der Gedächtnistrainer Markus Hofmann empfiehlt unter anderem, die Loci-Methode am eigenen Körper anzuwenden, wenn man sich fortan beispielsweise einen Einkaufszettel sparen möchte. Die Loci-Methode (lat.: ‚locus’= der Ort) wurde schon von Cicero angewandt, indem er Inhalte und Eckdaten, die er sich für eine Rede merken musste, gedanklich mit Objekten seiner Umgebung verknüpfte. Dadurch schafft man ‚Briefkästen’, die zum Abrufen lediglich noch geöffnet werden müssen. Für den Gang in den Supermarkt bereitet man sich dann zum Beispiel vor, indem man die Schuhcreme an den Füßen ablegt (logisch), das Waschmittel an den Knien (werden ja immer schnell schmutzig), das Shampoo an den Haaren, die Tomaten auf den Augen. Hat man bestimmte Körperteile mal als Briefkästen fest eingerichtet, so fallen aktuelle Assoziationen nicht schwer und machen großen Spaß. Braucht man mal weniger Dinge als Briefkästen vorhanden, so gab es mancherorts heute eben keine Post.
Will man sich etwas merken, so ist es auch wichtig, wie viele Sinne man anspricht. Es ist zum Beispiel weniger erfolgreich, eine Sache nur zu lesen. Das Gehirn reagiert sehr viel freudiger, wenn es die Sache auch akustisch wahrnimmt, wenn man einen Satz also laut spricht. Oder ihn jemandem erzählt. Oder umformuliert. Mit der richtigen Merktechnik kann man laut Hofmann jede Information langfristig speichern. Dieser ‚Speicher’ im Gehirn funktioniert so: Jede Information, die über die Sinne wahrgenommen wird, nimmt das Gehirn als elektrischen Impuls auf und verarbeitet ihn.
Nur zehn bis zwanzig Sekunden kreisen diese elektrischen Ströme im Gehirn- wird in dieser Zeit keine Gedankenverbindung gefunden, an die die Information andocken kann, verschwindet sie im Nirvana. Dies ist das so genannte Ultrakurzzeitgedächtnis, das auch seinen Sinn hat, denn ohne es würden wir von der Informationsflut quasi erschlagen und irre. Möchte man sich jedoch gezielt etwas merken, kann man sich diesen Mechanismus zunutze machen und Verbindungen, sprich Assoziationen, schaffen. Negativbeispiel ist da der Griff auf die heiße Herdplatte- einmal geschehen, wird man Herdplatten künftig anders betrachten als zuvor.
Im weiteren Sinne gilt dies übrigens für so gut wie alle unserer Erfahrungen, die wir einmal gemacht haben und die mit bestimmten Informationen verknüpft sind: hatte ich an einem bestimmten See ein schönes Erlebnis, so werde ich diesen See immer wieder gern aufsuchen, weil diese positive Verknüpfung besteht. Bin ich dort jedoch zur Winterzeit ins Eis eingebrochen, so werde ich diesen und womöglich Seen überhaupt künftig mit Erfrierung und Gefahr assoziieren- oft, ohne dass es mir bewusst ist. Daran, wie lange derartige Verknüpfungen bestehen, merkt man auch den Nutzen der Methode, wenn sie bewusst angewandt wird.
Inzwischen gibt es auch einen Bundesverband Gedächtnistraining e.V., der sich mit dem ganzheitlichen Gedächtnistraining befasst. Auch dort wird betont, dass das spielerische Lernen und die Beteiligung aller Sinne das Wohlbefinden merklich erhöhen. Wer seine Wahrnehmung, sein assoziatives und logisches Denken, seine Wortfindung und seine Kreativität trainiert, der aktiviert sein körperliches und geistiges Wohlbefinden und steigert damit seine Lebensfreude.